“I have a dream”–50 Jahre danach
Zum 22. Sonntag im Jahreskreis – Lesejahr C
Am 28. August 1963 marschierten gut 250’000 vorwiegend Schwarze durch die amerikanische Hauptstadt Washington. Dieser Marsch für Arbeit und Freiheit gilt als einer der Höhepunkte im Wirken der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Unweit des Weissen Hauses – am Lincoln Memorial – endete die Demonstration mit verschiedenen Reden. Als einzige von ihnen verblieb im historischen Gedächtnis die Ansprache des schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King jr., die bekannt wurde unter dem Titel ‘I have a dream’: “Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages diese Nation erheben wird und die wahre Bedeutung ihrer Überzeugung ausleben wird: Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: Alle Menschen sind gleich erschaffen.”
King wurde von zwei Seiten zu dieser Haltung motiviert: als politisch-philosophischer Humanist wie auch als Pastor seiner Baptistengemeinde war er sich sicher, dass alle Menschen gleich geschaffen sind unabhängig, von Herkunft, Hautfarbe, Bildungsstand. Die Frohe Botschaft – schon fast im Sinne einer befreiungstheologischen Botschaft – spielte in Kings Aktivität als Bürgerrechtler eine gewichtige Rolle.
Auch das heutige Evangelium spricht vom Verhältnis der Menschen untereinander. Es geht sogar noch weiter als die Forderung von Menschenrechtlern: “Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.” Es sind nicht nur alle gleich, sondern es soll sich in Bescheidenheit und Demut der eine dem anderen unterordnen. Man denke sich das mal aus für die damalige Situation der USA: So wäre es nicht nur egal gewesen, dass Schwarze und Weisse im Bus gemischt sitzen, sondern der Weisse hätte auch den Schwarzen bitten sollen, vorne Platz zu nehmen. Es gab Zeiten, da hätte dieser Gedanke so manchen Menschen atemlos werden lassen.
Schauen wir aber einmal genauer auf die Szenerie: Jesus mahnt die Gäste eines Festmahles zur Zurückhaltung gegenüber anderen, zur Demut, einer Tugend, deren Erwähnung manchen Beigeschmack auslöst. Er fordert auf, sich selbst geringer zu achten, als den Anderen. – Und das wiederum macht Jesus ohne Anzeichen von Demut und Bescheidenheit bei sich selbst: Er selbst spielt sich ja auf zum Richter über die Situation, die der Gastgeber und die Gäste verbockt haben. Wie kann das sein, was tut Jesus da?
Jesus setzt ein Zeichen. Und dabei geht es nicht zuerst um den Blick auf Rangfolgen und einen Aufruf zu Bescheidenheit. Das wäre zu kurz gegriffen. Jesus will vielmehr deutlich machen, dass es auf wesentlich mehr ankommt, als wer wo bei einer Feier sitzt. Es geht vielmehr um Fragen wie: Was braucht es vom Gastgeber und vom einzelnen Gast, damit das Fest wirklich und nicht nur dem Schein nach gelingen kann, damit alle Wertschätzung erfahren und sich somit willkommen geheissen fühlen. Und was getan wird, soll echt sein, soll wirklich von Herzen kommen – so dass sowohl Geber wie Empfänger wirklich zufrieden sein können.
So zeigt Jesus zwei Arten der Demut und Bescheidenheit auf, die letztendlich schief gehen müssen. Da ist einerseits die Heuchelei: “Wenn du mittags oder abends ein Essen gibst, so lade nicht deine Freunde […] ein; sonst laden auch sie dich ein, und damit ist dir wieder alles vergolten.” Wenn das, was der Gastgeber gibt, auf dem Umweg über die Beschenkten wieder zu ihm zurückkehrt, hat er den Anderen nur benutzt um sich selbst was Gutes zu tun.
Andererseits macht Jesus durch sein eigenes Verhalten deutlich: Selbst wenn ich grundsätzlich bescheiden bin, kann es die Situation verlangen, auch mal an mich zu denken und mich durchzusetzen. Bei aller Bescheidenheit darf ich mich selbst nicht aus dem Blick verlieren. Der richtige Weg durch die Mitte ist das Kunststück.
Was heisst das in der Praxis – schauen wir wieder zurück auf die Situation der Rassendiskriminierung in Amerika und anderswo: Es reicht nicht, dass Menschen sich voller Elan einsetzen für Gleichberechtigung. Denn diejenigen, die sich da für Minderheiten einsetzen, werden verzichten müssen und müssen sich fragen, wie weit sie das können und wollen. Es ist so, dass ich selbst Privilegien abgeben muss, wenn jemand anderes mehr Rechte haben soll. Es ist nicht möglich, dass einer etwas bekommt, ohne dass ein Anderer etwas hergibt. Das wiederum ist schmerzhaft – worin ein Grund liegen dürfte, dass in den 50 Jahren Bürgerrechtsbewegung auch noch so viele Baustellen offen sind: Natürlich sollen Schwarze an die Universitäten – das heisst aber, dass für Andere – vielleicht Weisse – kein Platz mehr sein wird. Natürlich sollen Schwarze wählen – das aber heisst, dass sich traditionelle Mehrheiten verschieben werden. All das muss man wollen, wenn man für Gleichberechtigung, Frieden und Gerechtigkeit kämpft und Demut und Bescheidenheit nicht nur auf der Zunge, sondern auch im Herzen trägt. Aber anders – und das ist Kern des heutigen Evangeliums – lässt sich eine einträchtige Gesellschaft nicht aufbauen: weder in Jerusalem, in Amerika noch im Himmelreich.
Die Erzählung vom Gastmahl im Haus des Pharisäers ist also ein Aufruf zu Bescheidenheit, Demut und wirklicher Gerechtigkeit, der nicht Völker und Nationen grundlegend verändern soll, sondern zuerst einmal den einzelnen Menschen. Damit trifft er auch auf unser Ohr, die wir von Rassendiskriminierung und den Themen der Bürgerrechtsbewegung nicht direkt betroffen sind. Wenn wir uns aber umschauen, werden wir schnell merken können, dass auch in unserer Gesellschaft viele Baugruben sind, die wir dringendst ausgestalten müssen: Die Parteien und Interessensgruppen halten uns das immer wieder eindringlich vor Augen. All das aber wird nie gehen können, wenn nicht jeder Einzelne, jede Einzelne anschaut, was er geben will; wenn er sich nicht – um im Wort des Evangeliums zu bleiben – auf den unteren Platz setzt und den Nachbarn bittet aufzurücken. Aber: Wer ist dazu bereit?
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