Wenn Kirche krank macht
Auch Seelsorgende laufen in Gefahr, auszubrennen und krank zu werden. Die gepredigte Botschaft vom Heil ist genau dann glaubwürdig, wenn sie auch eine menschliche Erfahrung wird. Was braucht es dazu?
Quelle: Katholische Kirche im Kanton Zürich
25. November 2020
Ende Oktober hiess es im Sonntagsevangelium: «Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.» (Mt 22,34-40)
Zwei oder drei Gebote?
Traditionell ist hier vom Doppelgebot die Rede. Oder sind es nicht doch eher drei Gebote? Sowohl die alttestamentliche Quelle dieses Gebotes wie auch die Autoren des Neuen Testamentes, die die Rede Jesu vom wichtigsten Gebot wiedergeben, nehmen die Selbstliebe bzw. Selbstachtung als ein Beispiel, um aufzuzeigen, wie man Gottes- und Nächstenliebe am besten beschreiben und leben kann. So wie du dich selbst liebst, sollst du auch Gott und deine/n Nächste/n lieben. Das klingt plausibel. Schaut man sich aber in unseren Zeiten um, kann man nur sagen: Das ist ein gewagtes Herangehen.
- Heute müsste Jesus vielen Menschen eher sehr deutlich sagen: «Du sollst Gott lieben, deinen Nächsten und dich selbst.»
- Und manchem gar: «Du sollst Gott lieben und dich selbst, so wie du deinen Nächsten liebst.»
Seelsorgende sind erhöht burnoutgefährdet
Kurz vor ihrer Priesterweihe Ende des letzten Jahrtausends sind zwei Weihekandidaten im Zürcher Pfarrblatt forum nach ihrem Lebensstil befragt worden. Einer der beiden erzählte, dass es ihm wichtig sei, auf freie Zeiten zu achten und regelmässig ins Fitness zu gehen. Es folgte ein Shitstorm in Form von Leserbriefen. «Wir haben bei uns in XX noch einen richtigen Pfarrer, der 24/7 für uns da ist», hiess es etwa.
Von dem Pfarrer, der da gepriesen wurde, wusste ich glücklicherweise, dass das so nicht stimmte. Es wäre auch fatal, denn ein solcher Lebensstil ist ein hochriskantes Dasein wie auf der Achterbahn:
Das Gift des Ausgebrannt-Seins
Die 2015 von verschiedenen pastoralpsychologisch ausgerichteten deutschen Wissenschaftlern vorgestellte Seelsorgestudie (www.seelsorgestudie.de) zeigt auf, dass 39% von 8.500 befragten deutschen Seelsorgenden in einer solch erhöhten Weise stressbelastet leben, dass sie tendenziell burnoutgefährdet sind. Das liegt im Berufsvergleich wohl noch innerhalb der Normwerte. Doch sollte eine Institution wie die Kirche, die Heil und Heilung predigt und vorleben will, an dieser Stelle aufhorchen.
Was heisst das für uns, wenn pastorale Profis zu Gottes- und Nächstenliebe animieren, diese in Wort und Tat vorleben wollen, sich aber möglicherweise selbst in einen Zustand hineinleben und -arbeiten, in dem sie zum Gegenüber im Spiegel keine Beziehung mehr haben?
- Wer in einen solchen Zustand geraten ist, dem passiert das nicht über Nacht.
- Das Gift des Ausgebranntseins hat bei beständig zu hoher Belastung und Ressourcen fressenden Umständen langsam, aber nicht unaufhaltsam im Betroffenen breit gemacht.
- Das Aufhalten der Negativspirale könnte gelingen, wäre da nicht ein permanenter Erfolgsdruck oder Selbstanspruch, der allmählich zum Würgegriff wird und die letzten Kräfte aus dem Betroffenen herauspresst.
Das Gift wohlwollender Tipps
«Na, dann muss man halt früh genug die Bremse ziehen, mal was für sich tun, Urlaub machen, Auszeiten nehmen, auf Exerzitien gehen…» – so hört man immer wieder wohlgemeinte Coachingtipps aus dem Umfeld gestresster und potentieller Burnout-Kandidat/innen. Da mag etwas Wahres dran sein, nur:
- Wer geht hin und macht seinem Vorgesetzten, der Mitarbeiterschaft und gegebenenfalls auch der Familie klar, dass man schon seit einer gewissen Zeit jenseits der Ressourcengrenzen arbeitet und dass sich da dringendst was ändern muss?
- Wer wagt es, sich von pastoralen oder auch familiären Aufgaben zurückzuziehen und ihm/ihr Anvertraute – subjektiv empfunden – «im Stich zu lassen»?
- Wer legt seinen/ihren Finger auf die strukturelle Unordnung eines Betriebes und weist auf ihr krankmachendes Potential hin?
Nein, es ist unfair und unverantwortlich, dem/der Burnout- oder Depressionskandidaten/-kandidatin die Verantwortung allein zuzuschreiben oder zu überlassen.
Schwäche zeigen liegt nicht drin
So wie der Mitarbeiter / die Mitarbeiterin am Arbeitsplatz nicht nur mit der zugeordneten Tätigkeit, die was mit ihm/ihr macht, in Beziehung steht, sondern mit dem ganzen Arbeitsplatzsystem, hat auch dieses ganze System einen Einfluss darauf, ob Ressourcen angemessen gepflegt und erneuert werden können oder verdampfen.
Natürlich ist es wichtig und gut, wenn Vorgesetzte regelmässige Befindlichkeitsrunden abhalten und nachhören, wie es der Mitarbeiterschaft so geht. Aber das ist nur ein schüchterner Anfang und kann längst nicht alles sein, denn: Wenn das Betriebssystem eines Pfarrhauses, einer Arbeitsstelle oder gar diözesaner Stellen derart in Unordnung ist, dass niemand sich traut, über ihren/seinen Zustand wahrheitsgemäss Auskunft zu geben,
- weil er / sie nicht richtig Gehör findet
- weil er/sie damit rechnen muss, dass das Zugeben einer Schwäche oder
- der Hinweis auf Strukturmängel wie ein Bumerang auf ihn / sie zurückfällt,
dann sind solche Übungen sinnlos.
In einem Interview über seine Erschöpfungsdepression (NZZ, 21.9.2020) erzählt der ehemalige Berner Juniorenweltmeister im Orientierungslauf Florian Schneider (27) auf die Frage nach Befindlichkeitsrunden in seiner Mannschaft: «Ich habe nie die Wahrheit gesagt.» Schwäche zu zeigen, lag nicht drin.
Erkennen und Unterstützen ist auch Chefsache
Den Erschöpfungszustand eines Mitarbeiters / einer Mitarbeiterin – lange, bevor er pathologisch wird – zu spüren, ist auch Chefsache. Das ist schwierig und gelingt nicht immer, der Versuch aber darf nicht aufgegeben werden. Dazu gehört,
- diesen Zustand wahrzunehmen,
- empathisch zu benennen,
- sensibel dem Moment der Katharsis (wenn der/die Mitarbeiter/in die eigene Situation bereit ist anzuschauen) zuzuführen
- und sämtliche Türen aufzuhalten, die zur Besserung führen.
Die meisten Burnout-Kandidat/innen wissen dann aus ihrem nächsten oder vielleicht sogar schon therapeutischen Umfeld sehr gut, was zu tun ist: Das letzte, was sie brauchen, sind säckeweise gute Tipps. Vielmehr hilft ihnen jetzt eine Arbeitsplatzsituation, die Vertrauen stärkt, auf die Person zentrierte Hilfe bietet und nachhaltige Unterstützung auf dem Weg zur Genesung gibt.
Vertrauen als wesentliche Grundlage
Vertrauen ist das wichtigste. Wenn an einem Arbeitsplatz – und das gilt übrigens auch für hochaktive Freiwillige in den Gemeinden – Mitarbeiter/innen und Arbeitsplatzleitung «Freuden und Hoffnungen, Trauer und Ängste» (Pastoralkonstituion Gaudium et Spes Nr.1) echt und ehrlich zu teilen in der Lage sind, dann schafft dies eine gute Voraussetzung für ein heilsames Arbeitsklima – die Pastoralkonstitution «Gaudium et Spes» gilt nicht nur für die Universalkirche, sondern auch für den Mikrokosmos einer kirchlichen Stelle.
Diese Ausführungen vermittelt jede Organisationsberatung – sie sind überhaupt nicht neu. Dennoch sind sie für die Kirche eine besondere Herausforderung.
Von diesem Heil in praktischer Tat Zeugnis zu geben, ist Aufgabe eines/r jeden Getauften, ganz besonders aber eines jeden leitenden Verantwortlichen in der Kirche: eines/r jeden Seelsorgenden, einer/s jeden Stellenleiter/in, eines jeden Pfarrers, einer jeden Gemeindeleiterin, eines jeden Bischofs.
So ähnlich ist es in meiner Berufserfahrung auch gewesen