Nicht meine Gerechtigkeit will ich haben (Phil 3,9) – Von einer Spiritualität der Kritik
So alt wie die Menschheit: Der Sündenbock
Jesus macht es ihnen nicht einfach. Eigentlich hatten sie ja Recht. Die Ehebrecherin war auf frischer Tat erwischt worden und hatte sich damit – nach gängigem jüdischen Gesetz – das Urteil selbst gesprochen. – Eigentlich war alles klar. Nun aber steht die Frau vor Jesus und nicht vor Gericht. Und eigentlich geht es auch gar nicht um die Frau. Die Verantwortlichen der Synagogengemeinde wollen an Jesus heran. Es geht um ihn. Die Frau? – Mittel zum Zweck. Sie wird zum Sündenbock gemacht.
Das ist eine alte Tradition, die immer einwandfrei funktioniert: Wer zum Sündenbock erklärt wird, ist ja vielleicht nicht unschuldig, aber er oder sie bietet sich an, auch noch zur eigenen die Schuld der ganzen Umwelt auf sich zu nehmen. Die Idee des Sündenbocks ist uralt – wahrscheinlich noch älter als die Quelle, nach der sie bezeugt ist. Bereits im Alten Testament ist zwar nicht die Rede vom Sündenbock, aber doch vom Bock, der beladen und weggeschickt wird: Immer am israelitischen Versöhnungstag legte der Hohepriester einem unbescholtenen Ziegenbock alle Sünden des Volkes auf. – Rituell veranschaulicht durch eine Handauflegung. Danach wurde das arme Vieh – ganz wörtlich – in die Wüste geschickt und seinem Schicksal überlassen.
Gesetz und Moral
So geht das jetzt auch mit der Ehebrecherin. Der Buchstabe des jüdischen Gesetztes sollte ihr Schicksal werden. Jesus hingegen war dafür bekannt, dass er nicht rigoros ist – was ihm leicht als Laxheit in Sachen Gesetzestreue ausgelegt werden konnte. Und dann hätten sie sowohl die Frau als auch ihn überführt. Aber Jesus geht den linkischen Notablen der Gemeinde nicht auf den Leim. Er hält ihnen einen Spiegel vor, fordert sie heraus: “Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie.” Worte, die weit über die Heilige Schrift hinaus bekannt sind. Jesus geht da auf dünnem Eis – denn aus der Sicht des Gesetzes haben sie wohl Recht, aber der Gottessohn diskutiert nicht über das Gesetz, sondern er hält ihnen ihre moralische Überheblichkeit vor. Es geht ihm nicht darum, ob die Phariäser Recht haben. Es geht ihm nicht um das Gesetz – es geht um die verstockten und überheblichen Herzen der Pharisäer. Die Pharisäer urteilen nicht zuerst nach dem Gesetzbuch, sondern sie moralisieren. Sie haben eine Meinung über die Frau und das Gesetz kommt ihnen in ihrer Meinung sehr entgegen. Hier hakt Jesus ein.
Und das Gesetz?
Natürlich sind sie berechtigt, an der Frau Kritik zu üben. Das aber kann nur tun, wer in aller Demut auch immer wieder festgestellt hat, dass er oder sie selbst auch nicht ohne Fehler ist. “Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie.” Man kann diese knisternde Ruhe, in der Jesus da in den Sand schreibt, geradezu spüren. Jesus lässt seine Worte sich in aller Ruhe einsenken. Und sie wirken. Beschämt gehen die Moralapostel von dannen – weder an die Ehebrecherin noch an Jesus sind sie herangekommen. Ganz im Gegenteil: Sie sind auf der ganzen Linie gescheitert. Zum guten Schluss beendet Jesus die Situation mit einer deutlichen Unterscheidung von Recht und Moral, wenn er zu der Frau spricht: “Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!”
Kritik: Das macht man nicht?
Diese Geschichte, die wir hörten, ist eine tendenziöse Geschichte. Oder nicht? Haben Sie sich nicht insgeheim solidarisiert mit Jesus und der Frau? Haben Sie nicht vielleicht doch ganz still und leise gedacht, was die Verantwortlichen der Synagogengemeinde für Fieslinge sind?
Und genau in dem Moment gehen wir dem Autor des Johannesevangeliums auf den Leim. Schauen wir auf das jüdische Gesetz, waren die Geistlichen durchaus nicht im Unrecht. Und in diesem Sinne bis zum Schluss gedacht wäre es ja geradezu unmöglich, ein richterliches Urteil zu fällen oder eine berechtigte Kritik auszusprechen, wenn das nur Menschen tun können, die absolut makellos sind. Auf welchen Menschen trifft es denn schon zu, was Jesus da fordert: “Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie.” – Doch die Idee des Evangelisten ist es nicht, Richterstühle oder kritische Gespräche abzuschaffen. Die Kunstfertigkeit, die er einfordert, ist es, einander wahrzunehmen und anzuschauen – sehr wohl auch mit kritischen Augen, und dabei benennen und aussprechen zu können, was vielleicht nicht gut oder gar falsch ist, ohne aber in überhebliches Moralisieren zu verfallen. Die Synagogenverantwortlichen haben das nicht geschafft. Es ist eine wahrhaftig schwierige Kunst. Aber erst, wer diese Kunst beherrscht, kann mit anderen kritisch sein, ohne zu verletzen; kann andere auf Fehler hinweisen, ohne abzuwerten. Die Grundvoraussetzung dafür ist eine gute Beziehung zur eigenen Fehlerhaftigkeit.
Der gute Geist der Kritik
In der heutigen Lesung macht der Apostel Paulus auf seine Art darauf aufmerksam, wie das gehen kann: “Nicht meine Gerechtigkeit will ich haben, die aus dem Gesetz hervorgeht, sondern jene, die durch den Glauben an Christus kommt, die Gerechtigkeit, die Gott schenkt aufgrund des Glaubens.” Die Gerechtigkeit aber, die aus dem Glauben an Christus kommt, ist geprägt von Barmherzigkeit. Und der Glaube an Christus ist geprägt vom Vertrauen, dass ich diese Barmherzigkeit erfahren kann. Wer auf die Barmherzigkeit Gottes setzt, weiß sich angenommen mit allem, was er ist: mit seinen Stärken und Vorteilen und mit seinen Fehlern und Schwächen.
Paulus macht es ja vor: Seine Briefe, vor allem seine Mahnschreiben an die Gemeinden, sind geprägt von Fundamentalkritik am Verhalten der Gläubigen. Paulus nimmt kein Blatt vor den Mund. Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein, möchte man ihm zurufen. Aber Paulus weiß sich in seine eigene Kritik durchaus miteingeschlossen, sein kritisches Auge macht auch vor seiner eigenen Person nicht Halt. – Wer so in Demut zu seinen eigenen Grenzen stehen kann und um den Schmerz dieses eigenen Begrenztseins weiß, der findet auch einen angemessenen Zugang zu den Fehlern und zu der Begrenztheit seiner Nächsten.
Lassen wir uns in diesen Tagen vor Ostern auf diese wahrlich schwierige Herausforderung ein. Probieren wir uns aus und versuchen wir herauszufinden, wie es gehen kann, einerseits ehrlich und offen mit den Nächsten auch in kritischen Situationen zu sein, ohne andererseits verurteilend und abwertend zu sein. Möge die Barmherzigkeit Gottes da für unser eigenes Denken und Handeln Richtschnur, Wegweiser und Maßstab sein.
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