Mein Nächster? – Ich seh keinen…
Zum 15. Sonntag im Jahreskreis – Lesejahr C
Gebot der Gottesliebe
“Dieses Gebot, auf das ich dich heute verpflichte, geht nicht über deine Kraft und ist nicht fern von dir. – Das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten.” – Die heutige Lesung aus dem atl. Buch Deuteronomium kommt etwas geheimnisvoll daher. Der jüdische Gläubige sowie auch wir hier lassen uns zurufen: Gott will uns in die Pflicht nehmen, nicht über die Maßen, aber es geht um was – aber worum denn? In der atl. Lesungen bleibt das ziemlich im Dunkeln. Was ist dieses Gebot für uns? –
Die Erklärung gibt sich zu erkennen, wenn man orthodoxe Juden beim Gebet beobachtet. Dann können wir sehen, dass hauptsächlich Beter aber auch immer mehr Beterinnen auf der Stirn und an einem Arm je so eine Gebetskapsel tragen, die sogenannten Tefilim. In ihnen finden sich kleine Pergamentrollen, auf denen Verse aus der Torah stehen, die zum einen vom Bund Gottes mit seinem Volk und dann schließlich die Rettungsgeschichte Israels in knappen Worten erzählen. Die Vorschrift zum Tragen dieser Gebetskapseln entdecken wir nun in einem der Abschnitte, die in solch einer Gebetskapsel enthalten sind. Dort heißt es im 6. Kapitel des atl. Buches Deuteronomium: “Diese Worte […] sollst du als Zeichen auf deine Hand binden, und sie sollen als Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie auf die Pfosten deines Hauses und an deine Tore schreiben.” –
Und im Zusammenhang mit diesen rituellen Vorschriften sind nun auch die wichtigsten Worte zitiert, um die es im jüdischen Glauben geht: “Sch’ma Israel – Höre, Israel: Der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft”. Das also ist das Wort, auf das Gott den Menschen verpflichtete, als er seinen Bund mit ihm geschlossen hat. Gott wendet sich dem Menschen nicht einfach nur zu, er ruft uns auch zu sich – und wartet auf eine Antwort: auf die Hinwendung des Menschen zu seinem Gott.
Ohne den Menschen geht es nicht
Als Jesus den Bund Gottes mit den Menschen erneuert hat, geht er noch einen entscheidenden Schritt weiter. Im 3. Buch der Torah, im Buch Levitikus, findet sich unter all den Gesetzen, die das Zusammenleben der Menschen regeln, der Satz: “Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.” Die Evangelisten gehen nun hin und verweben ganz neu das Gebot der Gottesliebe mit dem Gebot der Menschenliebe – beim Evangelisten Lukas tönt das dann so: “Der Gesetzeslehrer sagte: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben […] und deinen Nächsten wie dich selbst. Jesus sagte zu ihm: […] Handle danach und du wirst leben!”
Das ist kein literarischer oder rhetorischer Salto der Evangelisten, das ist eine Verschiebung der Aussagen des Alten Bundes durch Jesus, die es in sich hat. Durch die Evangelisten lässt uns Jesus wissen: Gottesliebe geht ohne Menschenliebe nicht. Wer angibt, Gott zu lieben, den Menschen aber wie im Gleichnis der Levit oder der Priester im Straßengraben liegen lässt, lebt keine echte Gottesliebe. Wer Tag und Nacht in der Synagoge oder vor dem Tabernakel nur betet, aber unberührt bleibt von der Not des Nächsten, hat den Bund mit Gott gebrochen. Solch ein Mensch ist von Gott noch weiter weg als jener, der Gott nicht kennt, aber die Not des Nächsten sieht. Der Barmherzige aus Samárien, von dem Jesus im Gleichnis erzählt, gibt dieser überdeutlichen Aussage ein Gesicht.
Und über allem steht, was Jesus dem fragenden Gesetzeslehrer ins Gewissen schreibt: “Handle danach und du wirst leben!” Es geht nicht allein um das Gutsein des Menschen – es geht um den guten Menschen, wie er vor Gottes Angesicht lebt. Die Güte und Liebe Gottes, die sich an uns Menschen abspielt, soll sich widerspiegeln in unserem Verhalten gegenüber dem Nächsten. Ohne Menschenliebe keine Gottesliebe.
Wie soll das gehen?
Aber: Wie soll das denn nun gehen mit der Menschenliebe? – Das wird vermutlich eine Frage sein, die jeden Menschen mit wachem Gewissen beständig umtreibt. Eine letztendliche Antwort? – Ich weiß nicht, ob es sie geben kann. Versuchen wir aber ein paar Annäherungen. Dazu stellt sich natürlich auch uns diese Frage: “Wer ist denn unsere Nächste, wer ist unser Nächster?” Schnell sind wir vielleicht bei der Hand mit offensichtlichen Antworten, die wir bei der Prägung unseres Gewissens gelernt haben: Menschen auf der Flucht; Menschen, die krank sind; Menschen in wirtschaftlicher Not. Das ist gut so. – Wir können uns an der Aufzählung im Matthäusevangelium (Mt 25) orientieren, die schließlich in der Aussage gipfelt: “Was ihr für einen dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.”
Schwieriger wird es, wenn wir uns von der Ebene der direkten zwischenmenschlichen Beziehung, wo wir der Not unseres Nächsten gerad ins Angesicht schauen und die notleidenden Augen sehen können, in politische Kontexte begeben. Da ist Not vielleicht nicht gerade immer so direkt sichtbar – aber eben: existent. So sei nachgefragt: Wie setzen wir uns ein für Menschen, die politisch benachteiligt oder gar verfolgt werden – nicht irgendwo auf der Welt, sondern mitten in unserer Gesellschaft, in der wir leben? Wir denken vielleicht an Kinder, Männer und Frauen, die ganz unerkannt in unserer Nachbarschaft häusliche Gewalt erleben müssen, ohne dass jemand eingreifen kann. Wir denken an Jugendliche, an Männer und Frauen der LGBTQ-Community, die sich trotz liberalerer Gesetzgebungen in vielen Ländern immer mehr zunehmend physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt sehen. Wir denken an Menschen, darunter so viele elternlose Kinder, die aus ihrer Heimat fliehen mussten und nicht zu jenen gehören, die bei uns so wunderbar willkommen geheißen und umsorgt werden. – Die Liste kann man noch verlängern.
Auch sie sind unsere Nächsten, Menschen an den Wegrändern unserer Gesellschaft, die unseren Einsatz fordern, den der Evangelist beschreibt, wie wir es hörten: “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.” Eine derartige Nächstenliebe ist nicht immer nur einfach, sie ist nicht nur ein Bauchgefühl, sie erfordert auch unsere Willensentscheidung – eine Grundsatzentscheidung, die klar zeigt, wie wir zum Menschen und damit auch: wie wir zu unserem Gott stehen. Wenn wir die Nöte unserer Nächsten auch in politischen und vielleicht sogar in kirchlichen Systemen erkannt haben, können wir uns nicht mehr wegducken, dann sind wir gefordert. Jesus ruft dem Gesetzeslehrer zu: “Geh und handle genauso!” – Und: “Du wirst leben!”
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