Lasst uns dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt (A. Delp)

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Zum 30. Sonntag im Jahreskreis – Lesejahr B

Kalkulieren ist schon gut

“Liebe macht blind”, sagt ein Sprichwort. Und es meint: Wenn wir uns in irgendwen oder irgendwas verguckt haben so heftig, wie es nur geht, verabschiedet sich der Verstand. Da gibt’s kein Halten mehr, kein Reflektieren oder Kalkulieren – nur noch: Ich will. Wenn dann alles gut geht, ist das wunderbar. Aber liebestolle Blindheit und die Gefahr, auf schlechte Wege verführt zu werden liegen schon recht nah beieinander. In einer Beziehung ist es doch sehr oft so, dass das Hirn berechnend und überlegend wieder angestellt wird, sobald die Schmetterlinge im Bauch mal wieder gelandet sind. Dann kommen die Fragen, ob man das Richtige getan hat, ob alles so bleiben soll, wie es ist. Oft gut und richtig, manchmal aber eben auch zuviel des Guten. Bei vielen anderen Projekten ist es aber dann doch auch sehr wichtig, Kalkül walten zu lassen. Kurzum: Blindes Verliebtsein ist mit allerlei Risiken verbunden, oftmals mit zu hohen.

Das Leben ist zum Hingucken

Im heutigen Evangelium erleben wir eine anderegenau umgekehrte Situation: Wir hören, dass Gottes Liebe nicht blind, sondern vielmehr sehend macht. Und dass diese Liebe nicht so ein turbulentes Gefühl ist, sondern ein eingehender Prozess, dass die Liebe Gottes etwas in Gang bringt. Schauen wir einmal näher auf die Geschichte vom blinden Bartimäus. Zu Beginn wird uns berichtet, dass Bartimäus wegen seiner Blindheit irgendwie nicht dazu gehört – so ein bisschen wohl, aber zuerst steht er am Rand der Gesellschaft. Aber er will drinnen sein und über diesen Mann aus Nazareth hatte er gehört, dass mit ihm eine Chance dazu daherkommt. Jesus ist die Chance seines Lebens und die will er sich nicht vermasseln. So verlässt er mit aller Kraft die ihm zugeordnete Rolle des schweigenden Bettlers und macht sich bemerkbar. Gegen jegliche Konventionen. Die Leute wollen ihn wohl wieder zurückdrängen an seinen angestammten Platz, aber Bartimäus bahnt sich seinen Weg.

Sehen will ich, was sonst. Oder?

So ist das, wenn Gottes Hinwendung zu den Menschen zu reicher Erkenntnis führt: Dann gibt’s kein Halten mehr. Und als Jesus all sein Mühen honoriert, lenken die Zuschauenden ein und lassen ihn vor zu ihm. Und dann diese scheinbar absurde Frage: Was willst du, das ich dir tue? Was will ein Blinder schon von seinem Retter? – Aber Jesus nimmt auch in diesem Schicksalsmoment dem Blinden die Verantwortung für sein Leben nicht ab. Wenn er sehen können soll, dann nur, weil der Blinde es will. Denn Gottes Liebe zu den Menschen fällt nicht einfach so über uns her, sondern sie begleitet uns auf jedem einzelnen Schritt unseres Lebens, den wir aber selbst gehen müssen.
Rabbúni, ich möchte sehen können. – Und Jesus sendet den Geheilten zurück auf seinen Lebensweg, den er nun im Licht des Glaubens an seinen Erlöser erkennen und gehen kann: Geh! Die Heilserfahrung bewirkt in Bartimäus einen tiefen Glauben und lässt ihn an Jesus dranbleiben – und er folgte Jesus auf seinem Weg nach.
Gottes Liebe ist nicht (nur) ein quirliges Gefühl im Bauch, Gottes Liebe schafft Erkenntnis, öffnet uns die Augen fürs Leben.

Was siehst du?

Die Verkündigung der anderen Texte des heutigen Sonntags geben uns davon ebenfalls ein beredtes Beispiel. Im Buch des Propheten Jeremia hörten wir den Satz: Ich führe sie an Wasserbäche, auf ebenem Weg, wo sie nicht straucheln. Denn ich bin Vater für Israel.– Das Jeremiabuch ist wenige Jahrzehnte vor der grössten Katastrophe des Alten Volkes Israel entstanden, kurz vor dem Babylonischen Exil. Die Prophetenbücher dieser Zeit verweisen auf Rettung durch Gott – aus ihm erwächst mitten in allem Unheil neues Leben. Der Prophet öffnet dem Volk die Augen und macht sie sensibel für einen Weg, den sie gehen können, um zu überleben und zu leben. Anders als der Gottessohn lässt Jeremia die Menschen aber wissen: Ich kann euch nur darauf aufmerksam machen, wo es lang geht – hinschauen und dann gehen müsst ihr selbst. Im Gottessohn bekommt die Erkenntnis eine neue Qualität, in ihm wird die Sicht auf die Liebe Gottes vielfach klarer, sie wird Mensch – wie Bartimäus hat spüren dürfen.
Wer dann einmal erkannt hat, wo ein Weg entlanggeht und wie ein Lebensweg gut ist, der soll das nicht einfach für sich behalten. Paulus sagt dazu im Brief an die Gemeinde der Hebräer, dass jede und jeder die Erkenntnis Gottes weitergeben soll – oder anders: Jede/r soll mit den Unwissenden und Irrenden mitfühlen, wie er schreibt, jede und jeder mit Erkenntnis soll zu einem Blindenführer werden für all jene, die nicht sehen können oder wollen.

Lieber nicht zu viel?

Das Evangelium lässt einen womöglich schwierigen Aspekt der Blindenheilung aus. Es erzählt nicht, wie Bartimäus auf seine Heilung selbst reagiert. Wir hören nur, dass er sich Jesus anschliesst. – Im Gespräch mit Menschen mit Seh-behinderungen habe ich immer wieder zu hören bekommen, welch eine Auseinandersetzung es braucht, wenn sich die Sehfähigkeit verändert – sowohl wenn sie sich verschlechtert als auch wenn sie sich verbessert. Die veränderten Seherfahrungen müssen verarbeitet werden und das ist oftmals nicht ganz einfach. Es bedarf einiger Auseinandersetzungen mit sich selbst und der Umwelt und einer grossen Anpassungsfähigkeit.

Das gilt auch für die geistige und geistliche Sehfähigkeit. Wenn Gott in seiner Zuneigung zu uns Menschen uns sehen und erkennen lässt, wie unser Lebens wirklich ist und verläuft, ist das nicht immer eine ganz einfache Erfahrung. Lassen wir uns heute von Bartimäus dazu ermutigen, die Augen aufzumachen und hinzuschauen – zunächst auf uns selbst, um zu sehen wer und wie wir wirklich sind, und dann auch auf die Nöte unserer Nächsten. Und lassen wir uns nicht erschrecken und verängstigen, von dem was wir sehen und erkennen. Wir sind nicht allein – Gott lässt niemanden sitzen, weder Bartimäus damals am Wegesrand noch uns heute. – Oder um es mit den Worten des Jesuitenpaters Alfred Delp zu sagen, der 1945 von den Nationalsozialisten in Berlin-Plötzensee ermordet wurde und kurz vor seinem Tod schrieb: Lasst uns dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt.

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