Die meisten der kritisch erkrankten Jungen waren gesund

Tages-Anzeiger

Quelle: Tagesanzeiger

Neue Zahlen zu Covid-Kranken auf Schweizer Intensivstationen zeigen, welche Risikofaktoren eine Rolle spielen und wie häufig es jüngere Personen trifft. Intensivmediziner Matthias Hilty vom Universitätsspital Zürich ordnet die Daten ein.

Marc Brupbacher, Mathias LutzAktualisiert am 21. September 2020

Noch immer ist die Annahme verbreitet, dass Covid-19 für junge, gesunde Menschen keine Gefahr bedeutet. Daran können auch Berichte von Schicksalen wie jenem von Jonas Lüscher wenig ändern, der wegen schwerer Komplikationen mit dem neuen Coronavirus 7 Wochen lang beatmet werden musste. Der Autor ist noch keine 45 jahre alt, war vorher gesund und hatte keine Vorerkrankungen. US-Immunologe Anthony Fauci sagte kürzlich: «Dass es für junge Menschen keine schädlichen Folgen geben kann, ist nicht wahr. Wir sehen mehr und mehr Komplikationen bei jungen Menschen.»

Neuste Zahlen aus dem RISC-19-ICU-Register des Universitätsspitals Zürich und der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) zeigen, dass Lüscher kein Einzelfall ist, auch wenn junge, gesunde Menschen verhältnismässig selten so schwer erkranken. Insgesamt mussten bisher in der Schweiz während der Pandemie 4500 Personen aufgrund von Covid-19 hospitalisiert werden, 800 bis 1000 von ihnen erkrankten kritisch und wurden auf eine Schweizer Intensivpflegestation (IPS) verlegt. Die meisten von ihnen waren über 60 Jahre alt, doch knapp 40 Prozent waren jünger als 60 und jeder Sechste (15%) jünger als 50. Von den unter 40-Jährigen wiesen über 75% keine bekannten Vorerkrankungen auf.

«Die Jungen benötigen keine Vorerkrankungen für einen schweren Verlauf», sagt Oberarzt Matthias Hilty vom Institut für Intensivmedizin des Universitätsspitals Zürich. Über die Gründe, warum es einige ohne offensichtlichen Grund so hart trifft, ist noch vieles unbekannt. Es scheint, dass die Alarmanlage des angeborenen Immunsystems bei manchen zu Beginn nicht richtig funktioniert und sich das Virus eine gewisse Zeit lang ungehindert im Körper vervielfachen kann, oder aber eine überschiessende Reaktion Kollateralschäden verursacht. Dies hat bei Jung und Alt unterschiedliche Ursachen. Geschieht dies bei jungen Menschen, sind die Gene ein wichtiger Faktor, wie jüngst verschiedene Studien zeigten. Ein Gendefekt macht vor allem Männer anfällig für einen schweren Krankheitsverlauf.

«Es ist das Zusammenspiel zwischen den Eigenschaften des Erregers und des Patienten, welches entscheidet, ob es zum Multiorganversagen kommt», sagt Hilty. Schwere Komplikationen gebe es auch jedes Jahr bei jungen Grippekranken, «aber nicht annähernd in der gleichen Proportion. Und nicht auf die gleiche Art. Das gibt einem schon zu denken, dass es auch Junge nicht so selten schwer trifft.» Positiv sei, dass diese Patienten meistens überlebten, durch die gravierenden Verläufe könnten allerdings lang anhaltende Beschwerden drohen. «Es kann möglicherweise auch das ganze Leben lang etwas zurückbleiben», so der Intensivmediziner.

Je älter die Erkrankten auf der Intensivstation werden, desto mehr Komorbiditäten wie Diabetes, Immunsuppressions-Krankheiten, Fettleibigkeit, Herzkrankheiten, Krebs oder Bluthochdruck weisen sie auf. So wurden bei den 50- bis 60-Jährigen bei 67,5% Vorerkrankungen registriert, bei den über 80-Jährigen war dies bei 88% der Fall. Neben den Begleiterkrankungen sind vor allem ein hohes Alter, das Geschlecht Mann und Rauchen ungünstige Voraussetzungen und machen eine Behandlung auf der Intensivstation wahrscheinlicher. Zusätzliche Risikofaktoren wie die Virusmenge, der man ausgesetzt war, und genetische Gegebenheiten können auf individueller Ebene eine weitere Rolle spielen.

Über alle Altersgruppen mussten rund 75% der kritisch kranken Covid-Patienten intubiert werden. Dies sei bei einer Krankheit, die bei einer Mehrheit der kritisch Erkrankten ein akutes Lungenversagen (ARDS) auslöst, wenig überraschend. Auch 20- bis 50-Jährige Intensiv-Patienten müssen in rund 65% der Fälle ans Beatmungsgerät angeschlossen werden. Hier gibt es also keine riesigen Differenzen zwischen den Altersgruppen.

Wer auf die Intensivstation verlegt wird, hätte in vielen Fällen ohne die intensivmedizinische Unterstützung keine Überlebenschance mehr. In der Schweiz konnten dennoch rund 80% der Covid-Erkrankten die Station lebend verlassen – bei den jüngeren Personen unter 50 Jahre überlebten über 96%. «Das ist in Anbetracht der Schwere der Erkrankung sehr erfreulich und nicht selbstverständlich», sagt Hilty. Gemäss Studien liegt die Überlebenswahrscheinlichkeit auf der Intensivstation in den USA bei 63% und in der Lombardei während der ersten Welle sogar lediglich bei 55%, wie es in einem Bericht der Covid-19-Taskforce des Bundes von Ende Juli heisst.

Einige spekulieren heute über die Theorie, dass das Virus schwächer geworden sei, weil es bei steigenden Fallzahlen weniger Hospitalisationen und Tote gibt. Hilty kann diese These nicht kommentieren, er sehe allerdings bei der Schwere des Krankheitsverlaufs zwischen heute und damals zum jetzigen Zeitpunkt keine grossen Unterschiede: «Die Zusammensetzung der Altersstruktur ist heute ähnlich wie im März/April, auch die Mortalitätsrate bewegt sich auf ähnlichem Niveau, nur sind es aktuell noch wenig Fälle.»

Auffällig ist das Geschlechterverhältnis auf den Intensivstationen. Mit 76% Anteil liegen deutlich mehr Männer kritisch erkrankt in den Spitälern als Frauen. Bei den Männern löst das Virus eine schwächere T-Zellen-Aktivierung aus als bei den Frauen, was wiederum mit einem schwereren Krankheitsverlauf einherging, stellte eine Studie der US-amerikanischen Yale School of Medicine kürzlich fest.

Eine Gruppe von Intensivmedizinern des Universitätsspitals Zürich rund um Hilty lancierte zusammen mit der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) und mit der tatkräftigen Hilfe von vielen Intensivmedizinern in der Schweiz und in Europa im März ein internationales Register, welches Daten aus Intensivstationen sammelt. Am RISC-19-ICU-Register sind mittlerweile 54 Zentren in 10 europäischen Ländern beteiligt.

Ein Fokus der Datenerhebung liegt darauf, wie sich die Organfunktion und die Blutwerte der Patienten während der Therapie auf der Intensivstation entwickeln, welche Komplikationen und Begleiterkrankungen auftreten und wie sie behandelt werden. Bei rund einem Viertel jener, die starben, trat ein Multiorganversagen auf. Für das Sterberisiko erwies sich nicht nur eine Lungenfunktionsstörung als ausschlaggebend, sondern Patienten, die beim Eintritt an Sauerstoffmangel litten, deren Nieren und Gefässsystem nicht funktionierten und deren Blutgerinnung gestört war, sterben laut den Registerdaten häufiger.

Hilty sagt: «Die Ergebnisse unserer Studie können Intensivmedizinern schon beim Eintritt des Patienten helfen, abschätzen zu können, welchen Verlauf bei ihm die Krankheit nehmen könnte, mit welchen Komplikationen, zusätzlichen Infektionen und Interventionen wie künstlicher Beatmung oder Nierenersatzverfahren am ehesten gerechnet werden muss.»

Aber einen sogenannten Gamechanger gebe es nach wie vor nicht. Wie stark die ersten zugelassenen Therapien mit dem antiviralen Medikament Remdesivir, dem Steroidhormon Dexamethason oder Blutplasma von genesenen Covid-19-Patienten tatsächlich wirken, könne aufgrund dieser Daten noch nicht abgeschätzt werden, sagt Hilty. Alle drei Mittel werden in der Schweiz eingesetzt. Wenn die Erkrankten erst mal auf der Intensivstation landen würden und ganze Organsysteme ausfielen, könne auch bei anderen Krankheiten kein Medikament mehr die Erkrankung ungeschehen machen. «Am meisten nützt Prävention. Wir müssen Ansteckungen verhindern. Im Allgemeinen sind vorsorgliche Massnahmen effektiver als jede Therapie und bringen weniger Leid. Also, Masken auf, Hände waschen und Abstand halten.»

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Konzept und UmsetzungMarc Brupbacher und Mathias Lutz
Veröffentlicht23.9.2020, 11:35

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