Der Stephanus-Prozess – Kollateralschaden oder Wesensmerkmal der Heilsgeschichte?
Die Störung der Engel
Immer am zweiten Feiertag erleben wir den Prozess des ersten Märtyrers Stephanus. Ein Konfliktfall der frühen Kirche, der sich in einem heiklen Umfeld abspielte. Stephanus war Jude und Christ zugleich, ausserdem griechischsprachiger Herkunft und somit nicht gebürtig aus dem Heiligen Land. Als Fremde hatten solche Einwohner in Jerusalem kein Anrecht darauf, im Falle irgendeiner sozialen Schwierigkeit Unterstützung durch die Jerusalemer Tempelgemeinde oder durch die anderen Synagogengemeinden zu erfahren, wenn sie diesen Gemeinden wegen ihres neuen Christseins nicht angehören wollten. Aus diesem Umstand heraus entwickelte sich unter den ersten Christen fremder Herkunft also die Notwendigkeit, ein Sozialsystem zu entwickeln, mit dem man den Bedürftigen entgegen kam, die durch die sozialen Netze der Stadt Jerusalem durchfielen. Man legte diese Aufgabe innerhalb der frühen christlichen Gemeinde in die Hände von sieben Männern, welche „von gutem Ruf und erfüllt von Geist und Weisheit“ waren, wie das in der Apostelgeschichte heisst. Ihr Dienst war zugleich von geistlicher wie von sozialer Art: Zum einen trugen sie die Frohe Botschaft und das Eucharistiesakrament aus der Versammlung der Gläubigen zu jenen, die an der Versammlung nicht teilnehmen konnten, zum anderen schauten sie nach deren Bedürfnissen. Somit kamen die Diakone natürlich auch mit Notstand, Ungerechtigkeit und anderen Missständen in Kontakt und nahmen daran Anteil.
Stephanus – vielleicht ein Sozialist?
Vor diesem Hintergrund ist der Konflikt des Stephanus zu vermuten, der eh als sehr kritischer Kopf gegenüber den Synagogengemeinden Jerusalems galt. Als getaufter Jude ausländischer Herkunft wagte er den anstrengenden Spagat zwischen den alten religiösen Traditionen der Juden, der neuen Art der aufblühenden christlichen Religion und der Kultur seiner Herkunft. Die Spannung, die darin lag, kann man fast im Raum spüren. Und als sich diese Spannung dann einmal wieder entlud, kam es zu dem Prozess, von dessen tödlichen Ausgang wir hörten.
Politische Konflikte und persönlicher Krach wurden also anscheinend schon sehr früh zu Markenzeichen der christlichen Gemeinschaft. – Und nicht der Friede.
Tradition verpflichtet
Wir Christinnen und Christen sind dem treu geblieben – bis heute. Die Kirchengeschichte ist durchzogen von Hass und Krieg – quer durch alle Konfessionen. Wenn auch in unseren Tagen keine Kreuzzüge mehr zu Pferde und in voller Rüstung stattfinden, gibt es sie dennoch. Die Moderne verlegt diesen Kampf – in unseren Breiten zumindest – lieber in die Medien, mit Vorliebe ins Internet. Ein Beispiel bietet sich gerade in diesem Jahr in schon fast aufdringlicher Weise an: die Person des Nachfolgers des hl. Petrus. Wetterten bis zu seinem Rücktritt liberale Kreise in Kirche und Welt gegen Papst Benedikt und seine Fans, sind es heute jene, die bewahren wollen, die kristisch das Wirken von Papst Franziskus kommentieren. In den Ortskirchen, in unseren Bistümern und in unseren Gemeinden fühlen sich heute jene bestätigt, die immer schon den Wandel wollten, und sie lassen das ‘die Anderen’ – oftmals versehen mit reichlich Häme – auch wissen. Medial wurden damals und werden heute die Ungeliebten gleichsam zur Stadt hinaus getrieben – Steine in Form von bösester Kritik fliegen niedrig.
Wir Christinnen und Christen sind unseren Anfängen wahrhaft treu geblieben.
Das Wagnis der Ehrlichkeit
Bevor wir uns nun zurücklehnen und als fromme Christenmenschen aber doch den Frieden beschwören, der an diesem Weihnachtsfest die Botschaft der Engel ausmacht und der doch so dringendst notwendig ist, stellt sich die Frage: Warum ist das denn eigentlich bei uns immer so anders, als es sein sollte? – Eine erlösende Antwort darauf könnte sein: Weil wir Christinnen und Christen in keinem einzigen unserer Lebensvollzüge irgendetwas Anderes und schon gar nicht etwas Besseres sind als Nichtchristinnen und Nichtchristen in dieser Welt. Wir sind genauso unfriedlich wie alle anderen Menschen auch. Die Friedensbotschaft des Kindes in der Krippe ist uns wohl ein Auftrag – und unzählige Beispiele von Menschen zeigen auf, wie wir dem immer wieder im Kleinen wie im Grossen auch gerecht geworden sind. Dennoch gibt es keinen Anlass zu Hochmut – es bleibt noch viel zu tun, weil auch sehr viel schief gegangen ist und immer noch schief geht.
Christliche Konsequenz
Statt nun unsere Friedlosigkeit, die mit der Entstehung unserer Glaubensgemeinschaft einher geht, ständig zu verteufeln und zu verdrängen, indem wir mit den Lippen Besserung geloben und mit den Füssen diese Absicht treten, erscheint es doch viel schöpferischer, einmal ehrlich zu fragen: Und nun? Wohl wissend: Es wird richtig schwierig.
Ein erster Schritt zu einem konstruktiven Frieden könnte in Anerkennung der Tatsache bestehen, dass es ohne andere Menschen um mich herum nicht geht. Egal, was uns an Konflikten umgibt: Einen Friedensweg kann ich nicht allein gehen – das wird spätestens dann deutlich, wenn ich die Beispiele der grossen Friedensstifter etwa der Moderne näher anschaue: Ob Nelson Mandela, Mahatma Ghandi und andere – sie alle sind ihren Weg nicht allein gegangen, sondern sie haben immer wieder die Beziehung zu jenen gesucht, die für den Frieden unabdingbar sind. Ihr grosser Verdienst: Sie hatten keine ideologischen Barrieren im Kopf, sondern sind vorbehaltlos auf alle zugegangen.
Und noch etwas fällt auf: Den genannten Friedensstiftern folgte stets wieder eine lange Spur des Unfriedens. Auch das zeigt: Der Friede braucht den steten Neuanfang – und Friede, die Eintracht zwischen den Menschen wird immer bruchstückhaft bleiben. Dem einen Frieden folgt mit Sicherheit der nächste Konflikt.
Packen wir’s an
Wenn die Engel der Heiligen Nacht Frieden auf Erden verkünden, sind uns Menschen Massstäbe gesetzt. Mit diesem Horizont im Blick dürfen wir aber dennoch nicht unsere menschliche Wirklichkeit aus dem Auge verlieren, – jene Wirklichkeit, die auch den Hl. Stephanus das Leben gekostet hat, die vor Beispielen des Unfriedens, der Konflikte und des Hasses nur so strotzt. Vielmehr sind wir aufgerufen uns, immer wieder neu mit Mut und Phantasie auf den Weg hin zu einer friedvolleren Welt zu machen. Und die Friedenbotschaft des Weihnachtsfestes lädt uns dazu ein – jedes Jahr neu.
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